Geschichte des Faustbuchs
Die
Veröffentlichung alter Dokumente zu einer
Internet-Seite
mag auch unerwartete Schwierigkeiten mit sich bringen, genauso wie man
sie
in einer anderen Übergangsperiode gekannt hat, derjenigen
nämlich
von Schrift zu Druck im deutschen 16. Jahrhundert. Das Faustbuch
bietet
ein interessantes Beispiel, da es damals in jedem der beiden Medien
sein
Schicksal
erlebt hat. Daraus entstanden auch sehr gründliche
Mißverständnisse.
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Sie zu "Textual
Criticism" für einige allgemeine Überlegungen.
Das
Faustbuch scheint ein sehr früher Roman zu
sein,
der etwa zur Zeit des evangelischen Kirchenstreits (1568-81)
geschrieben
wurde, oder nicht lange danach. Es ist in einer
(Historia
vnd Geschicht Doctor Johannis Faustj des Zauberers)
in der sehr klaren Hand eines Berufsschreibers, wahrscheinlich eines
Nürnbergers,
erhalten. Dieses Manuskript bleibt auch heute noch in
hervorragendem,
wie unbenutztem Zustand (als ich es in Wolfenbüttel ca. 1960 las,
lag
noch der Streusand auf den Blättern). Wir besitzen das im
Wesentlichen
gleiche Werk auch in einem Abdruck (1587) aus der distinguierten
Frankfurter theologischen
Offizin von Johann Spies. Wenn der Verfügbarkeit eines
Druckes der
unbenutzte Zustand der Handschrift zu verdanken ist, dann wurde
diese vielleicht auch nicht viel früher als 1587 aufgeschrieben.
Das alles bedeutet, daß wir in
der glücklichen Lage sind, zwei Fassungen eines (nicht mehr
erhaltenen)
Archetyps zu besitzen, denn es läßt sich zeigen, daß
jede unabhängig von der anderen hergestellt wurde. Das
heißt, daß ein Vergleich der beiden erhaltenen Versionen
eine recht gute Vorstellung von der gemeinsamen Quelle ergeben
kann. Natürlich können
wir nicht wissen, ob jene Quelle das ursprüngliche Faustbuch war,
oder
vielleicht schon eine fehlerhafte oder erweiterte Abschrift.
Ebensowenig
könnten wir bestimmen, wieviele Abschriften (Zwischenstufen)
jeweils zwischen dem
vermutlichen Original und
den einzelnen auf
uns gekommenen Zeugnissen existierten.
Von
den beiden Versionen des Faustbuchs ist der
Spies-Druck
die weitaus besser bekannte. Obwohl er erst im September erschien, sind
aus
demselben Jahr auch noch zwei weitere Abdrucke erhalten, sowie aus den
folgenden Jahren häufige Neuauflagen
mit immer zahlreicheren Episoden. Diese
zusätzlichen Erzählungen brauchten nicht neu erfunden zu
werden, denn es zirkulierte
eine Fülle von guten alten Geschichten, die sich schlecht und
recht
auch auf Faustus übertragen ließen. Dem theologischen
Ruf
der Spies'schen Offizin und den Erwartungen ihrer Kundschaft
entsprechend
wurde der Fauststoff auch mit religiösem Kommentar
gespickt. Solche "Mahnungen an den christlichen Leser" waren
unter der Leserschaft so
beliebt, daß sie bis Jahrhundertwende den größeren
Teil
einer neuen Edition ausmachten. Diese vielen Einschübe
sowie die Nachlässigkeit und Wiederholungen in der Ausführung
gingen schließlich auf Kosten der Lesbarkeit. Als mit der
Zeit auch
die Lust am konfessionellen Disputieren abnahm,
so mußten das Spies-Faustbuch und seine Nachfolger weniger
attraktiv werden. Dazu kam,
daß Faustus selber einen anderen Schauplatz und ein neues
Publikum gefunden
hatte.
Einer von den frühen
Spies-Drucken erschien vor 1594 in sehr lockerer Übersetzung in
England und wurde
die wahrscheinliche Quelle für Christopher Marlowes Tragicall
History of D. Faustus
(ca.
1601). Englische
Schauspieler haben wohl irgendeine Version von Marlowes Stück nach
Deutschland gebracht, vielleicht nach Wolfenbüttel, wo Herzog
Heinrich Julius solche Spieler gerne empfing. So kam Faustus auf
den Marktplatz, um jahrhundertelang hier eine im
Puppenspiel beliebte
Figur zu bleiben.
So haben die deutschen Klassiker Lessing und Goethe, die
Faust zu einer zentralen Figur in der deutschen Dichtung machten, ihn
wahrscheinlich schon als Kinder kennengelernt. Unter zahlreichen
Behandlungen wurde Faustus,
bald durch die Oper
Gounods geehrt, bald
durch Heines Faust-Ballet gespottet, zu einem Haupt-Thema
in der Weltliteratur. Mitte des 20. Jahrhunderts in Kalifornien
sah
Thomas Mann die Verfilmung von Stephen Vincent Benéts "The Devil
and
Daniel Webster," wo der Teufelsbündler in Kontext mit der
(amerikanischen)
Nationalschuld gebracht wird. Daraufhin griff Mann zum alten
Spies-Buch
zurück für die Struktur zu einem düsteren
Kriegszeit-Roman,
Dr. Faustus,
der in der archaischen Sprache und
Religiosität des 16. Jahrhunderts Humor und tiefere Bedeutung findet. Der Protagonist,
ein deutscher "Tonsetzer" des 20. Jahrhunderts, sieht es als seine
Lebensaufgabe, das harmonische Weltbild Beethovens (und somit auch
Goethes) zu widerrufen.
Diese jahrhundertelange Rezeption des Spies-Drucks
hat
die Literaturwissenschaft so sehr beschäftigt und beeindruckt,
daß die alte Nürnberger Handschrift in Vergessenheit
geriet. Sie mag ihrem Leser das verlorene Original viel
näher bringen, als Spies es auch nur versucht, aber in ihrer
Epoche des endgültigen Sieges der
Druckerpresse über das Scriptorium blieb die Handschrift fast
unbekannt.
Herzog
August war es wahrscheinlich, der sie 1620 für seine berühmte
Bibliothek
anschaffte und katalogisierte. Erst gegen Ende des 19.
Jahrhunderts
hat dort ein Bibliothekar ihre Publikation als "Wolfenbüttler
Manuskript"
unternommen.
Als ich versuchte (1960) diese
Handschrift auf Englisch wiederzugeben, entdeckte ich die
Binsenwahrheit, daß die Übersetzung den Intentionen eines
Originals getreu bleiben muß--welches leider nicht mehr zu Handen
war. Ich ging indessen davon aus, daß die uns (aus den
sukksessiven Spies-Editionen) bekannte
Geschichte des Textes seiner uns verborgenen Vorgeschichte entsprechen
müsse,
d.h., obwohl die Wolfenbüttler Handschrift noch viel unverdorbener
ist,
als
der Spies-Druck, müssen wir damit rechnen, daß auch sie
schon
ähnliche wohlgemeinte Zusätze enthalten mag. Ich
publizierte
damals als Anhänge zu dem Text meine detaillierten Versuche, einen
Schattenriß des Originals zu projizieren. Hier aber
möchte ich nur das reizvolle
kleine Werk selber leicht zugänglich machen. Zugeben
muß
ich nun schließlich, daß auch bei mir das Faustbuch mit
Zusätzen
erscheint: der fleißig übersetzte Spies-Druck erschien
1590
in den Niederlanden mit den hier beigegebenen, von mir
gefärbten
Holzschnitten.
Für das Abbild einer Seite
aus der Wolfenbüttler
Handschrift, hier
bitte clicken.